Diesig dumpf hing der Nebel. Aus schleichenden Schwaden troff feines Nieseln. Aufgeweichter Moorgrund schwappte und gurgelte. Eine trostlose, feuchtkalte Öde badete in den stummen Tränen der längst hereingebrochenen Nacht.
Ein Tag neigte sich seinem Ende zu. Es war ein Tag im Spätherbst gewesen - einer dieser trüben Regentage, an dem kaum Licht zum Erdboden herabgedrungen war. Ein Tag, der seinem finsteren Gegenpart ähnlicher gewesen war als Seinesgleichen.
Im Schatten des steinernen Giganten ergriffen sie ihn. Sie ergriffen ihn unter schallendem Hohngelächter, zerrten an seinem morschen Wams, bis es zerbarst. Sehnige Finger umfaßten die spindeldürren Arme, warfen ihn in den feuchten Staub der engen Esplanade. Derbe Taue schnitten alsbald in seine Handgelenke, ein ekeliger Knebel verpfropfte den zahnlosen Mund und würgte den Wimmernden.
Regen prasselte trostlos herab, als man den Buckligen an den Schaft des riesigen Keltenkreuzes legte. Nicht mehr als ein Stapel verwesenden Fleisches lagerte man ab - eine Masse, in deren Innerem nur noch viel zu zarte Herzschläge dem hilflosen Erlöschen des Lebens entgegenwirkten.
Westwind war aufgekommen. Seine unsichtbaren Finger strichen durch totes Gebüsch. Sie zerrten und zupften, wirbelten moderndes Laub empor. Im bunten Reigen zog das faulende Blattwerk groteske Bahnen, und so manches entwurzelte Gewächs kollidierte raschelnd mit jenem einsamen Hochkreuz, dem Dominator dieses gemiedenen Niemandslandes. An die vier Meter war es wohl hoch und ruhte auf einem festen Fundament aus schweren Quadern. Mausgrau war der Block aus archaischem Gestein, der sich so würdevoll seiner düsteren Umgebung anpaßte. Mausgrau war auch der mit Flechtwerk reich ornamentierte Kopf, der das keltische Zeichen Christi versinnbildlichte - die runde Keltenscheibe, aus der heraus die mächtigen Balken des Kreuzes zu den Seiten und nach oben drängten. Kreuz und Sonne - die vollkommene Synthese von Christen- und uraltem Heidentum.
Es war eine seichte Mulde zwischen schmatzenden Morastlöchern, die dieser stumme Gedenkstein beherrschte. Fernab von allen sicheren Wegen zur Festung von Dumbarton stand er an einem Ort, an dem ein einsamer, nasser Graspfad sein Ende fand.
Zwanzig Jahre etwa thronte er schon hier, erhaben und erfüllt von lebendiger Symbolik. Eine Bekundung drückte er aus - die des immerwährenden Gedenkens und der tiefen Trauer um einen unersetzlichen Verlust. Die begnadetsten Steinmetze des scotischen Königshauses hatten ihn in monatelanger mühsamer Arbeit gefertigt, damit er Ewigkeiten trotzen könne. Denn so lange sollte der Ruhm und das Andenken an denjenigen glorifiziert werden, den hier in diesen toten Hügeln ein unergründliches Schicksal ereilt hatte.
'Niemals wird er wiederkehren!'
So lautete die befremdende, in Stein gemeißelte Aussage dieses Hochkreuzes, verdeutlicht durch schlichte Kerben des nordischen Oghamalphabets. Kein Name, kein Begebnis! Nur diese schlichte, eigenartige Bezeigung immensen Kummers - wußte doch in jenen längst vergessenen Tagen jedermann in Dalriata, wem sie galt.
Ein Ort war dieser, an dem sich im Laufe der Jahre so mancher Pilger hilfesuchend eingefunden hatte, denn es rotierte ein hartnäckiges Gerücht im Königreich. Man hatte zunächst hinter hohler Hand von rätselhaften Heilungen gemunkelt, die sich am Fuß des Hochkreuzes ereignet hätten. Blinde hätten ihr Augenlicht wiedergefunden, als sie die Lider mit dem Morgentau benetzten, dessen Tropfen sich in den Kerben der Inschrift gesammelt hatten. Todkranke wären heil und gesund angetroffen worden, nachdem man sie eine eisige
Nacht lang allein am Fuß des Kolosses belassen hatte. Unfruchtbare Frauen wären nach ihrer Wallfahrt schwanger geworden und hätten reiche Niederkunft erfahren. Also war da kaum einer unter den Gläubigen, dem hier nicht auf mysteriöse Weise geholfen worden wäre.
So erzählten die einen von unheimlichen Irrlichtern im Moor, die sich ihnen unstet tänzelnd genähert hätten und mit dem Atem in ihre Körper eingedrungen wären. Sie, so schworen die wundersam Genesenen bei ihrem Seelenheil, hätten Gottes Werk in ihrem Inneren getan und wären durch die Nase wieder entwichen. Andere dagegen berichteten von geheimnisvollen Gesängen um sie, die ihnen Schauder tiefer Ehrfurcht und Verzückung bereitet hätten. Phantasische Schilderungen über das rätselhafte Auftauchen und Verschwinden zauberhafter, strahlendweißer Blumenwiesen, in denen gegen Mitternacht kleine, grazile Gestalten umhergehüpft seien, vervollständigten diese märchenhaften Darstellungen.
Und dennoch! Es war auch ein Ort, um den wohl viele einen großen Bogen machten - und nicht nur wegen des tückischen Sumpfes! Wolfsrudel und allerhand anderes, geiferndes Getier trieben nachts ihr lauerndes Unwesen in diesen nackten Hügeln. Ganz zu schweigen von jenen heimtückischen Schattenwesen, die nächtliche Wanderer in den nassen Tod lockten und funkelnden Spukerscheinungen, die Wagemutige in den blanken Wahnsinn trieben. Auch rumorte das Geraune, daß schuldige Verbrecher, hier sich selbst überlassen, durch jene Auswüchse der Nacht ihre gerechte Strafe finden würden, und so überantwortete man so manches Diebes- oder Mörderpack an diesem Ort gefesselt seinem Schicksal. Und so genoß die Basis des Hochkreuzes nebstbei auch den Ruf eines weithin gefürchteten Exekutionsplatzes für Gottesurteile - heidnischer Rest eines an sich christianisierten Volkes von Dalriata. Als unschuldig galt, wen die Henkersknechte am Morgen lebendig vorfanden.
Viele hatten versucht, die Bewandtnis dieser unerklärlichen Heilungen und Todesfälle zu ergründen. Sie mußten sich mit einer schaurigen aber ergebnislosen Nacht im Freien begnügen, belagert von den funkensprühenden Augen der Wölfe. Doch man wußte eines: Es wirkte hier freilich derjenige, zu dessen Ehrgedenken dieses Kreuz errichtet worden war. War es wohl falsch, was da in Stein gemeißelt stand - 'Niemals wird er wiederkehren!' ...?
Es geschah nach Einbruch der Dämmerung an einem jener trüben Regentage im Spätherbst, an dem kaum Licht zum Erdboden durchgedrungen war. Wind war aufgekommen, und wieder einmal hing diesig dumpf der Nachtnebel über dem verlassenen Hochkreuz. Das abgestoßene Blattwerk der kargen Laubbäume wirbelte darum herum, und ein einsamer Wolf klagte draußen im Moor mit einem schwermütigen Käuzchen um die Wette. Rauschend, säuselnd, lispelnd, gurgelnd und schmatzend trotzten die Laute der Natur der dem Ort innewohnenden, erhabenen Stille.
Und hätte sich ein später Wanderer hierher verirrt, er hätte nur diesen Geräuschen gelauscht, die ohne Falsch waren. Worauf sonst wohl hätte er geachtet - hier, inmitten des lauernden, nassen Verderbens? Vielleicht auf jene leisen, seltsam wehmütigen Klänge, auf jene über den Wasserlöchern züngelnden Irrlichter? Nein, der Wissende wäre ihnen aus dem Weg gegangen, um nicht Opfer ihres trügerischen Scheins zu werden. Möglich, es hätte eine gedrungene, bucklige Gestalt seine Aufmerksamkeit erregt, die da zusammengekauert am Fuß des Hochkreuzes von Dumbarton hockte und dessen Schaft umklammerte. Möglich, daß es so gewesen wäre - allein! Es gab ihn nicht, diesen nächtlichen Zeugen, und das war wohl auch gut so!
br>"Brude! Brude! Kehr um!"
Das verkrüppelte Wesen im Schatten des Kreuzes erschrak und stob hoch. Schemenhaft glitt es ziellos im Kreis umher. Die Hände abwehrend erhoben starrte es ins Moor hinaus.
"Brude! Wir sind deine Heimat, deine Familie! Kehr um!"
Über dem öden Gelände wallte kühler Nebeldunst. Farbenfrohe Irrlichter tanzten, bewegten sich anmutig auf den Buckligen zu. Sphärisches Gefunkel umspielte bald die fluchtbereite Kreatur, doch in ihr wogte Finsternis und Furcht. Er hatte gehofft - eine trügerische Illusion! Unbemerktes Entfliehen schien mißlungen! Was tun? Was tun?
"Einmal schon hat man dich gedemütigt, Brude! Behaftet bist du mit Schmach! Laß sie uns tilgen! Bleib bei uns!"
Die gebückte Figur aber zog weiterhin ihre wirren Bahnen, warf die krummen Arme über den runzeligen Kopf, suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Schlohweiße Haare wirbelten, als wären sie Teil der zähen Schwaden, die tückisch rund um das gewaltige Hochkreuz schlichen.
"Dareinst bist du gekommen und hast nach uns gerufen, Brude! Und auch wir sind gekommen, wie wir versprachen. Blick nicht zurück, Brude! Niemals darfst du zurückkehren!"
"... zurück will ich ... zurück ..."
Wie toll trugen die viel zu kurzen Beine den ausgemergelten Körper über braunverbranntes Gras viel zu dicht an einem gähnenden Morastpfuhl vorüber.
"... zurück ... wieder zurück ..."
"Brude! Brude! Sie werden dich peitschen! Sie werden dich an den Pranger stellen, dich verhöhnen! Wir aber lieben dich, wollen deine Schmerzen lindern! Bist du doch einer von uns, Brude! Von uns! Vergiß das nicht!"
"Dalriata! Wieder zurück ... kann nicht bleiben ..."
Auf einer kleinen Anhöhe erst ließ sich der Bucklige erschöpft zu Boden sinken.
"Dubh Mor! Dubh Mor!"
Flehentlich schweifte sein glasiger Blick über das öde Land hin zu jenem mächtigen Felsblock, der umrißhaft den Horizont begrenzte. Einzeln flackernde Lichter auf den Mauern der Festung, leises Rauschen des nahen Baches, ein säuselndes Wiegen einzelner, kahler Baumwipfel.
"Dalriata ... Dubh Mor ... Fleisch und Blut ... Blut ..."
"Brude! Brude! Zweimal haben wir dich erhört, und nur noch einmal darfst du rufen! Vergiß, Brude! Im Vergessen allein liegt dein Heil!"
"... kann nicht ... mag nicht vergessen ... Dubh Mor! Dubh Mor!"
Wie das Klagen aus dem Rachen eines todwunden Wolfs drang dieses markerschütternde Gestammel immer und immer wieder über seine sabbernden Lippen. Sein Blick haftete am nebelverhangenen Burghügel. Traurig war er, dieser Blick - unsagbar traurig und erfüllt von tiefer, jammervoller Sehnsucht.
"Mein Fleisch und Blut ... Dubh Mor! Dubh Mor!"
"Brude! Brude! Ein letztes Mal laß dich beschwören! Hohn und Drangsal wirst du ernten! Kehr um! Nur noch einmal darfst du rufen!"
"Nein! Nein! Laßt mich gehen! Dubh Mor! Dubh Mor!"
Der Bucklige rappelte sich panisch hoch, stolperte den Hang hinab, strauchelte. Fahrige Finger suchten Halt in taufeuchten Büscheln toter Halme. Von unglaublicher Willenskraft beflügelt, stemmte sich ein geplagter Körper auf seine klapprigen Beine, einer deformierten Kugel ähnlicher als Menschengestalt.
"Muß gehen ... Dubh Mor ... wartet ..."
"Brude! Niemand wartet und nimmer werden sie dir glauben! Dalriata - es ist nicht länger deine Welt! Brude! Laß ab davon! Laß ab!"
"Dubh Mor ... muß glauben. Alle glauben! ... Verzweiflung ... tut so weh ...!"
Und der Greis weinte still. Bittere Tränen waren es, die da über die zerknitterten Wangen strömten. Ja, bitter vergoß er sie und salzig bitter benetzten sie die langen, knöchernen Finger, die sie verstohlen fortwischten.
"... verstehen müssen ... glauben müssen ..."
"Brude! Brude ...!"
"Ich gehe ... sie glauben ... Weg! Fort mit euch!"
Ein kleiner Gegenstand schmorte in der geballten Faust. Ein winziges Kästchen war es, tränennaß und funkelnd wie jene Irrlichter, die ihn umzingelten. Wirre, ausdruckslose Augen stierten danach - nach jener Schatulle, die da spöttisch hervorlugte.
"Nein - nicht gestohlen, nicht gefunden ... ist meines! Sie müssen mir glauben ..."
"Brude! Brude!"
Doch der Alte nahm die warnenden Stimmen um ihn nicht mehr wahr.
Sein Entschluß war schon lange zuvor gefaßt. Den Buckel über den Kopf erhöht, trollte er sich durch die Flämmchenmauer hindurch. Und fort humpelte er; weg aus dem magischen Zirkel des Hochkreuzes, hin, der mächtigen, gespaltenen Bergkuppel von Dumbarton entgegen.
"Sei uns aufs Neue gegrüßt, Großkönig von Dalriata!", drang es lästernd aus heiseren Kehlen.
"Du kehrst also abermals zurück in die Burg deiner Väter? Wohlan! So laß dich ein zweites Mal verwöhnen von der Gastfreundschaft deines unwürdigen Statthalters! Viele Annehmlichkeiten hat er noch zu bieten!"
Und vornwärts trieben sie den Hilflosen, den zweihundertundfünfzig Stufen entgegen, die zum White Tower hinaufführten. Eingehakt hatten sie sich, auf daß ihr todmüder Gast nicht strauchle, trugen ihn eher als sie ihn führten.
Hindurch ging es durch das enge Felsentor und weiter im unregelmäßigen Trab die gerade Steintreppe nach oben. Nachtschwärze umgab sie hier im düsteren Spalt des durchbrochenen Burgfelsens - und doch waren sie unter freiem Himmel. Sie strebten den Fackeln zu, die ihnen dort droben am nächsten Tor entgegenleuchteten.
"Wen bringt ihr da?"
Eine Wache versperrte ihnen breitbeinig den Zutritt zum Gefechtsplatz auf halber Felshöhe.
"Es ist der Bucklige!", rief einer der Peiniger.
"Er ist zurückgekehrt!"
"Der Bucklige ist zurückgekehrt?"
Verblüfft trat der Posten aus dem Weg und ließ die beiden Hünen mit ihrer erbärmlichen Fracht passieren.
"Er hat es tatsächlich gewagt?"
"Der Teufel selbst muß ihn geritten haben!", war die zynische Antwort im Vorübereilen.
"Er soll bekommen, was ihm zusteht! Dubh Mor wird ihn lehren, mit seinem Großmut zu spaßen! Brude, der verschollene Großkönig von Dalriata kehrt zurück als lächerlicher Krüppel! Pah!"
Und weiter zerrten sie ihn, den sie voll Spott Großkönig nannten. Nackte Füße taumelten über Stock und Stein, zerschunden von zackig messerscharfen Kanten unzähliger Steinstufen. Längst waren die Beine erlahmt. Teilnahmslos schleiften sie über den rauhen Kies des unteren Burghofs im finsteren Herzen des Trichters zwischen den beiden kuppelförmigen Spitzen des Burgberges. Aus elenden Hütten starrten ungläubige Gesichter da und dort. Man gaffte, konnte zunächst nicht glauben, was und wen man da wiedersah, raunte, hub schließlich an zu grölen und zu lästern.
"Der Großkönig von Dalriata ist zurückgekehrt! Er ist wahrhaftig von den Toten auferstanden! Huldigt ihm! Huldigt ihm für all die Wunder, die er an seinem Volk vollbracht hat!"
Und wer von den Zaungästen des nächtlichen Spektakels seinen jeweiligen Standort verlassen durfte, tat es hohntriefend und tänzelte hinterdrein, der nächsten und letzten Stufenreihe entgegen.
Gewunden führte sie am schwindelnden Abgrund entlang. An den nackten Fels geschmiegt umrundete sie auf ihrem Weg zum Turm den sich nach oben hin verjüngenden Gipfel des steinernen Kolosses von Dumbarton.
Weitere Wachen traten nun der merkwürdigen Prozession entgegen. Fauchende Fackeln, die Feuer vom Wind unbarmherzig zerpflückt, versperrten den offenen Zugang der freistehenden Festung, die wie ein gigantischer Zeigefinger in den wolkenverhangenen Nachthimmel wies.
"Halt! Wer begehrt Einlaß?"
"Brude ist zurückgekehrt! Der Großkönig beansprucht sein Reich!", johlte die Menge.
"Er verlangt nach Dubh Mor! Dubh Mor! Dubh Mor! Gib Acht! Dein Thron ist verloren! Dein Thron ..."
Jäh verstummte der Pöbel, als sich eine mächtige Gestalt aus der Finsternis des Turmeingangs schälte.
"Was ruft ihr da, ihr tollen Hunde?"
Dubh Mor schritt lauernd einige Stufen herab, stieß seine Wachen derb zur Seite und baute sich drohend vor dem in sich zusammengesunkenen Alten auf. Nadelspitzen durchdrangen den schlaffen Körper, als sein stechender Blick daran zu ruhen kam.
"Der Bucklige ...!"
Seine Stimme schien plötzlich brüchig. Verwirrtes Erstaunen lähmte sie zunächst. Jäh hervorquellende, rasende Wut im darauffolgenden Moment löste jedoch abrupt die zwingende Fessel der Sprachlosigkeit.
"Diese Wanze an meinem Busen ...!"
Riesige Pranken legten sich um den gedörrten Hals des Alten, bereit, das letzte Quentchen Leben aus dem geschundenen Leib zu pressen. Doch sie umfaßten ihn nur, drückten nicht. Als hindere ihn eine unsichtbare Macht daran, ließ Dubh Mor schließlich zornbebend die Arme sinken.
"Satan selbst muß in dich gefahren sein, alter Narr! Erinnerst du dich noch an die Worte deines Königs, die dir befahlen, niemals wieder zurückzukehren?"
Stummes Nicken. Unendlich langsam hob sich das greise Haupt. Todmüde, bittende Augen erwiderten unsagbar traurig den grimmigen Blick des Herrschers.
"Irrwitzig mußt du sein fürwahr!", murmelte Dubh Mor tonlos.
"Ich versprach dir den Tod und dennoch! Du bist zurückgekehrt! Soll sich der König von Dalriata mit deinem stinkenden Blut besudeln? Was meinst du, Alter? Soll ich es tun? Rate mir! Du, der du behauptest, mein Vater zu sein! Gib mir deinen väterlichen Rat! Soll ich dich eigenhändig vom Felsen stoßen? Oder soll ich dich den Wölfen an der Burgmauer überlassen? Du bringst mich in Verlegenheit, Alter! Und das vor versammeltem Volk!"
"Dubh Mor! Glauben! Mußt glauben!"
Demütig kniete der Bucklige vor Dubh Mors hochaufragender Gestalt.
"... Der Beweis ... Sohn ... sieh ... der Beweis ..."
"Beweisen?"
Jäh stutzte Dubh Mor. Seine hohe Stirn legte sich prüfend in Falten, die gebleckten Zähne verschwanden hinter dem wüsten, kohlschwarzen Vollbart. Kaum hatte sich leises Gemurmel in den Reihen der Schaulustigen entwickelt, da gebot er frostig Einhalt.
"Nun gut! Hebt ihn hoch!", befahl er barsch.
"Es ist Brauch und Sitte, Todgeweihten einen letzten Wunsch zu erfüllen. Wohlan, alter Mann! Versuche es! Führe deinen Beweis! Laß also sehen, was dich als König von Dalriata ausweist!"
Auf seine wackeligen Beine gehoben, taumelte der Greis kraftlos umher, während er fahrig im Säckel seines zerborstenen Wamses kramte.
"... Beweis ... das Siegel ... mein Siegel ... mein Sohn ...!"
Scheppernd fiel ein glitzernder Gegenstand auf eine der nackten Steinstufen. Dubh Mor bückte sich erstaunt danach und prüfte ihn argwöhnisch im Lichte der lodernden Fackeln. Jäh verhärtete sich seine Miene.
"Die Siegelschatulle meines Vaters Brude!", stammelte er fassungslos und starrte wie hypnotisiert auf den funkelnden Prunk kostbarer Kleinode.
"Ja, wahrhaftig! Sie ist es! Verschollen war sie mit ihm!"
"Dubh Mor ... Sohn ... glaubst du nun ..."
"Woher hast du den kostbarsten Schatz unseres Geschlechts? Wo hast du ihn gestohlen?"
Dubh Mor ergriff den Wimmernden und streckte ihn mit einem mächtigen Hieb zu Boden.
"Nicht gestohlen, nicht gefunden ... ist meines ... glaube mir ... Sohn ...!"
Ein brutaler Fußtritt gegen den Buckel entlockte dem Gequältendumpfes Stöhnen.
"Warst du es, der meinen geliebten Vater auf der Jagd ermordet hat? Sag mir, Alter! Warst du es, der seinen Leichnam verscharrt hat? Du warst es doch, der sein blutendes Opfer noch beraubte! Gestehe, Mordgesindel, deine ruchlose Tat! Du hast deinen König in einen Hinterhalt gelockt und ihn kaltblütig getötet, als er in den Hügeln jagte! Gestehe, Schuft! Oder ich trenne dir mit eigener Hand deinen widerlichen Buckel vom Leib!"
"... Sohn ... glaube mir ..."
"Du willst also nicht gestehen?", schrie Dubh Mor haltlos im Zorn.
"So nimm dies als Beweis meines abgrundtiefen Hasses!"
Surrend fuhr ein Schwert aus seiner Scheide, und der Bucklige vernahm es wohl.
"... Sohn ... das Siegel ... ist meines ...!"
Derbe Hände rollten ihn auf den Bauch. Eine scharfe Schneide durchtrennte das Wams und schnitt sich ihren Weg tief hinein in den häßlichen Wulst, der sich ihr entgegenstreckte.
"Willst du nun deine Übeltat gestehen, Schurke?"
"Dubh Mor ... aaah!"
Immer tiefer drang das Eisen durch den Buckel. Eine abscheuliche Schicht aus Blutklumpen und abgeschabten Knochen hob sich ab. Der Schmerz raubte jeden Funken Bewußtsein. Schlaff glitt das schlohweiße Haupt zur Seite.
Unbefriedigt zog Dubh Mor das Schwert aus der klaffenden Wunde.
"Er hat es gewagt, sich mir abermals zu widersetzen!", murmelte er in purem Zorn.
"Doch was nützt ihm seine Verstocktheit, seine Lügen? Hinab mit ihm! Seine Anwesenheit beleidigt das Andenken meines teuren Vaters! Schafft ihn hinunter zum Hochkreuz, wo er seine Bluttat begangen hat! Dort soll er seine gerechte Strafe empfangen!"
"Was soll mit ihm geschehen, Herr?", schnarrte eine der Wachen.
Dubh Mor trat vor den Geschändeten hin und blickte gedankenverloren auf ihn hinab.
"Selbst die Klinge meines Schwertes reichte nicht aus, um diesem Tropf ein Geständnis zu entreißen. Wohlan! Überlassen wir ihn der Gnade oder der Rache seines Opfers, dem dieser Ort gewidmet ist. Morgen früh werden wir sehen, ob die Wölfe seinen Leib zerrissen haben oder ..."
Er unterbrach sich nachdenklich und beugte sich noch einmal zu dem Besinnungslosen hinab.
"... oder ob er die Wahrheit gesprochen hat.", fügte er schließlich stirnrunzelnd hinzu.
"Herr! Ihr zweifelt?", rief da ein bärtiger Hüne und blickte ihn verblüfft an.
"Das Gottesurteil wird es ans Licht bringen!", entgegnete Dubh Mor knapp.
"Bindet ihn und überläßt ihn den Wölfen! Nicht mehr als ein Happen ist es. Sie werden hungrig sein, wenn sie ihr karges Mahl beendet haben. Und sollten sie sich ekeln und ihn verschmähen, so werden sich die Würmer um ihn kümmern."
Kühne Worte waren es, die der König von Dalriata da gesprochen hatte, und doch ahnten die Versammelten den Kloß, der seine Kehle würgte. Betreten senkten sie die Häupter, während sich Dubh Mor auf den Rücken seines Rosses schwang. Forsch gab er ihm die Sporen und jagte zum Burghügel zurück.
Als er jedoch am folgenden Morgen mit Zeugen wiederkehrte, um seine nagenden Zweifel zu verwerfen, fand er den Ort des Hochkreuzes leer. Spurlos war der Greis verschwunden, als hätte der Erdboden ihn verschluckt. Der Großkönig von Dalriata war wohl zu Seinesgleichen heimgegangen, denn noch einmal hatte er rufen dürfen.
Und niemals wird er wiederkehren ...